Die Sache ist so: die eigene Anwesenheit an einem Ort bedingt unweigerlich die Abwesenheit an einem anderen. Damit lässt sich auch die kleine Pause erklären, die der Newsletter in den vergangenen Monaten eingelegt hat. Statt dem nächsten Lesemenü habe ich mich einem neuen großen Schreibprojekt gewidmet, von dem ich euch hoffentlich bald mehr erzählen kann. Außerdem bin ich mit meinem Newsletter auf Substack übersiedelt. Auf sarahsatt.substack.com findet ihr jetzt alle bisherigen Lesemenüs versammelt – ein großes Smörgåsbord aus Geschichten, das künftig von Beiträgen zu Kreativität, Sprache und dem Schreiben ergänzt wird. Während diese Ausgabe als Anwesenheitsnotiz meinerseits zu verstehen ist, glänzen die Figuren in den folgenden Büchern durch körperliche, geistige oder emotionale Abwesenheit, wodurch sie in den Köpfen ihrer Mitmenschen paradoxerweise omnipräsent sind. Von den verschiedenen Wegen vorübergehend abzutauchen bleibt ein gutes Buch der genüsslichste. In diesem Sinne: Viel Freude beim Lesen!
1. Gang
Ghosts
Ein Roman auf Englisch von Dolly Alderton, Deutsche Übersetzung: Gespenster
“Men of our generation often disappear once they’ve got a woman to say “I love you” back to them, because it’s almost like they’ve completed a game (…) They were taught to look for fun, complete the fun, then get to the next level, switch players or try a new game. (…) “I love you” is the relationship equivalent of Level 17 of Tomb Raider 2 for a lot of millennial men.”
Mit Anfang dreißig sind Beziehungen kompliziert, muss Nina feststellen. Obwohl sie als Food-Autorin Erfolg hat und eine kleine Wohnung ihr Eigen nennt, fühlt sich die Zweiunddreißigjährige in Sachen Partnerschaft und Familienplanung von ihrem Freundeskreis abgehängt. Einzig ihre alte Unifreundin Lola teilt Ninas Singleschicksal. Ein Umstand, über den sich die beiden mit schadenfrohen Anekdoten über das Beziehungspech anderer hinwegtrösten. Max, den Nina über eine Dating App kennenlernt, scheint ihre Chance zu sein, das Schadenfreude Shelf und Singledasein hinter sich zu lassen. Neben seinem Aussehen ist es vor allem Max ungeniert zur Schau gestellte romantische Ader, die Nina anziehend findet. Doch so vorschnell er Luftschlösser über ihre Zukunft zu zweit baut, so rasch löst er sich in Luft auf und lässt Nina ratlos zurück. Während Max weiter in ihrem Kopf herumspukt, macht Nina neben der fortschreitenden Demenz ihres Vaters vor allem die Art, wie ihre Mutter damit umgeht, zu schaffen. Ob das mit den Beziehungen je einfacher wird?
Ein amüsanter und feinfühliger Roman über die Geister, die meine Generation umtreiben, und die Flüchtigkeit moderner Beziehungen.
2. Gang
Vom Ende der Einsamkeit
Ein Roman auf Deutsch von Benedict Wells
„Für einen kurzen Moment sah ich den Schmerz, der sich hinter ihren Worten und Gesten verbarg, und sie erahnte im Gegenzug, was ich tief in mir bewahrte. Doch wir gingen nicht weiter. Wir blieben jeweils an der Schwelle des anderen stehen und stellten einander keine Fragen.“
Als ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen, nimmt die Kindheit des elfjährigen Jules, seines Bruders Marty und seiner großen Schwester Liz ein abruptes Ende. Die Geschwister kommen auf ein schlichtes Internat am Land. Statt sie enger zusammenzuschweißen drängt das geteilte Schicksal die drei in den getrennten Internatstrakten auseinander. Während Marty seine Tage am Computer verbringt, verliert Liz sich in Exzessen und wird für ihre Brüder immer unerreichbarer. Jules zieht sich indessen in seine Erinnerungen an die Sommer mit seiner Familie in Südfrankreich zurück und hängt in Tagträumen dem Leben nach, das ihm geraubt wurde. Seine Klassenkameradin Alva ist Jules einziger Lichtblick, aber auch über ihrer Geschichte liegt ein Schatten. Als sie Jahrzehnte später glauben, ihre Vergangenheit zusammen mit der verhassten Internatszeit hinter sich gelassen zu haben, wartet der unerbittliche Zufall erneut auf sie.
Eine empfindsam erzählte Geschichte darüber, dass sich Leid nie wirklich teilen lässt, von schweren Verlusten und der Liebe, die wie das Leben kein Nullsummenspiel ist.
3. Gang
Die Kunst des Verschwindens
Ein Roman auf Deutsch von Melanie Raabe
„Mir gefällt der Gedanke, dass die Zeit kein einziger gewaltiger Strom ist, dem man nicht entgehen kann, der keine Müdigkeit kennt, keine Gnade, der keine Ausnahmen macht, der einfach durchs Universum walzt, erbarmungslos und kalt, sondern dass da eine Lücke ist zwischen den Jahren. Eine Atempause.“
Nico hat ihren einstigen Traum von der Schauspielerei gegen ihr eigenes Fotostudio in Berlin getauscht, in dem sie Passfotos macht, Pärchen und Familien ablichtet. Für das neue Jahr wünscht sich die Fotografin vor allem eines: mehr Magie in ihrem Leben. Als sie in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr in ihrem Kiez dem Filmstar Ellen Kirsch über den Weg läuft, scheint sich ihr Wunsch zu erfüllen. Von der ersten Begegnung an besteht zwischen den Frauen eine ebenso starke wie rätselhafte Verbindung. Doch kurz nach Silvester verschwindet Ellen spurlos von der Bildfläche. Während die Öffentlichkeit eine PR-Aktion zu Ellens anlaufender Serie „The Vanishing“ wittert, vermutet Nico mehr hinter dem Verschwinden ihrer neuen Freundin und versucht sie aufzuspüren. Nicos Suche führt sie nach Brügge und Paris – und tief in ihre eigene Vergangenheit.
„Wir wollen Gewissheit (...) Die Jagd danach ist manchmal wie ein Rausch“, sagt eine Figur im Roman und wie ein solcher liest sich das Buch auch – atmosphärisch und fesselnd mit genau der richtigen Dosis Magie. Eine Empfehlung für alle, die Spannung abseits vom Thriller- und Krimi-Genre suchen.
Nachschlag
HINGEHEN // Vienna Reading Party: Auf dieser Party sind alle Gäste teilweise abwesend. Bei den monatlichen Reading Partys in Wien wird erst eine Stunde lang gemeinsam von Musik begleitet gelesen, anschließend geplaudert und gefeiert. Die nächste findet am 17. April statt. Infos auf Instagram @vienna.readingparty.
LESEN // Out Of Office: In der Interview-Reihe „Creative Ways of Living“ spricht Alice Katter vom
mit Kreativen darüber, wie sie ihre Tage strukturieren und wo sie Inspiration und Energie für ihr Tun finden. Spoiler Alert: in den seltensten Fällen am Schreibtisch.LESEN // Do Books Belong To Their Writers? Das neue Buch von Gabriel García Márquez ist erschienen – 10 Jahre nach dem Tod des Autors. Autorin Elif Shafak wirft in
die Frage auf, wem Geschichten gehören und wer das letzte Wort hinsichtlich ihrer Veröffentlichung haben sollte.In eigener Sache
“Wie schreibt man gut über Essen?”, hat mich Julia Rumplmayr vom Magazin SchreibRÄUME gefragt. Meine subjektive Meinung zum Thema und dazu, wie sich Food Blogs seit dem Start meines eigenen Blogs 2010 verändert haben, lest ihr in der aktuellen Ausgabe zum Thema Food Writing. Außerdem mit dabei: Barbara van Melle übers Backen von und Schreiben über Brot, Barbara Weissbacher über den Freewriting-Spirit in der Küche und Nathalie Pernstich von Babette’s über die Merkmale eines guten Kochbuchs. Einen Vorgeschmack aufs Magazin gibt’s hier.

